Home zum Anfang des Berichtes zurück weiter Ausrüstung / Herbergen / Literatur

 
Freitag, 01.06.2012: Pedrouzo - Santiago de Compostela (21,2 km)
Wir stehen ganz gemächlich auf, das Bett für heute Abend ist ja sicher! Die anderen Leute allerdings rödeln schon um kurz nach 5 Uhr. Finn, der Däne, den ich in Samos kennen gelernt habe, lässt es auch langsam angehen. Er muss "Zeit schinden", denn seine Frau ist erst morgen in Santiago, um ihn gebührend zu empfangen.

Nach dem Wetter der letzten Tage hatten wir Regen nicht mehr eingeplant, das sollte man aber in Galicien immer tun! Denn es fängt an zu schütten und unser Regenschutz ist tief im Rucksack verstaut.
Also, aus der Not eine Tugend machen und sofort einkehren um zu frühstücken und im Trockenen zu sein.

Sagte ich bereits, dass auch eine Menge verrückter Leute auf dem Camino unterwegs sind? Bestimmt!

Hier ist noch eine verrückte Camino-Geschichte:
Bei einer Rast hören wir, wie ein junger Mann aus dem Lokal kommt und seinen Kumpels mitteilt: "It´s bleeding,man!" Die drei jungen Männer sehen insgesamt ziemlich fertig aus, machen sich aber auf, denn es liegen noch ca. 12 km vor ihnen.
"Der Arme", denkt Karin, sie hätte noch jede Menge Pflaster und ähnliches und rennt hinter den dreien her. Die aber verschmähen ihre Hilfe.
Ein wenig später treffen wir das Trio wieder und nun stehen sie auf dem Weg, der eine hat den Rucksack abgelegt und kann sich kaum noch auf den Beinen halten, er scheint auch Schmerzen zu haben.
Inzwischen haben wir an seinem Gang erkannt, wo er die Schmerzen hat: er hat sich an seinen edelsten Teilen wund gelaufen!
"Jeder hat eine zweite Chance!" verkündet uns Karin und geht noch einmal auf die Jungs zu.
Sie überredet ihn, ihre Hilfe anzunehmen.
Die besteht darin, dass er Salbe bekommt, ein gutes Stück Mull zum abpolstern und zu guter letzt bietet Karin dem jungen Mann eine ihrer Unterhosen an - frisch gewaschen, versteht sich - denn mit seinen Boxershorts kann er bei der Problematik nichts ausrichten.
Er ist so fertig, dass er dieses Samariterangebot annimmt, mit seinem Kumpel ins Gebüsch verschwindet und sich versorgt.
Auch das ist der Camino!

Zu dieser Gruppe gehört ein junger Amerikaner. Aus tiefstem Herzen sagt er uns, dass er in keine Albergue mehr gehen wird, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als ein Vollbad, Fußpflege und ähnliche Dinge!
Dabei wollte er ganz besonders hart sein: er läuft in diesen "Barfuß-Schuhen", kann er aber nicht empfehlen, sagt er. Ob er denn keine anderen Schuhe habe? - Doch, sagt er und zeigt auf seinen Rucksack. Da baumelt ein zweites solches Paar!
Und zu allem Überfluss sind die Jungs seit ca. 100 km auf den Beinen und sind die Nacht durch gelaufen.
Warum man sich so etwas antue?
"We wanted a challenge at the end!" Wir wollten noch mal eine Herausforderung!

Wir wünschen ihnen Glück und gehen weiter.

Es wurde immer heißer heute. Vielleicht wären wir besser auch etwas früher los gegangen?
Maria und mir setzt die Hitze ziemlich zu, wir machen alle Nas' lang Pause und suchen Schatten.
Wir vertreiben uns die Zeit, indem wir überlegen, worauf wir uns besonders freuen. Was wir am Leben zu Hause besonders vermisst haben und es nun schätzen gelernt haben!
Ich freue mich z.B. auf die Annehmlichkeiten eines eigenen Bades, auf ausgedehnte gemütliche Frühstücke ohne Laufpensum im Nacken, auch auf die Möglichkeit, einfach mal wieder ein Auto zu benutzen, um irgendetwas zu besorgen.

In Lavacolla kommen wir am Flughafen vorbei und Maria wäscht sich nach alter Pilgersitte an der historischen Stelle, an der sich früher die Pilger für den Einzug nach Santiago nett ge-macht haben.
Monte Gozo ist enttäuschend, man sieht nichts von der Stadt. Man sieht nur Wald!

Der Weg in die Stadt zieht sich durch die Vorstädte, ist aber bestens markiert.
Plötzlich bleibt Maria in der Rua de San Pedro stehen und zeigt nach vorne: da, ganz hinten erhaschen wir den ersten Blick auf die Kathedrale.
Wir sind ganz gerührt!

Im 15.00 Uhr sind wir am Ziel: Wir stehen vor der Kathedrale! Völlig verschwitzt, aber glücklich machen wir die Beweisfotos.

Dann erst mal ins Hotel, duschen, umziehen, Compostela abholen, Kathedrale besichtigen, Jakobus umarmen.

Wir haben Glück im Pilgerbüro, denn die Schlangen sind nicht sehr lang. Als wir die Compostela in den Händen halten, ist das schon ein erhebendes Gefühl. Ein Kloß sitzt mir im Hals! Aber wir sind alle drei sehr sehr stolz!

Dann gehen wir shoppen! Wir haben wirklich keine Lust mehr auf die Klamotten, die wir seit Wochen anziehen! Heute Abend wollen wir richtig schick aussehen!
Also kaufen wir jeder ein bis zwei Fummel für je 15 Euro und freuen uns diebisch auf den Abend.
Nun ja, man sieht schon ganz anders aus, aber die Schuhe verraten uns dann doch als Pilger: wir haben alle Gummi- oder Wanderlatschen an!

Ich belohne mich noch mit - was wohl?- Schmuck! Ich erstehe in dem Geschäft einer Freundin von Maria Ohrringe, Anhänger und Ring, alles zueinander passend.

Bärbel und Renate sind auch in Santiago eingetroffen und wohnen im Hostal nebenan. Gemeinsam gehen wir essen und feiern unsere erfolgreiche Ankunft.

Danach schlendern wir durch die quirligen Gassen der Altstadt und bleiben bei der Clique von Marias spanischer Cousine hängen, wo man uns zum Wein einlädt.

Erkenntnis des Tages: Ankommen macht stolz und glücklich!

 
Samstag, 02.06.2012 - Dienstag, 05.06.2012: Santiago de Compostela und Finisterre
Lange und gut geschlafen, dann gegen halb 11 Uhr fürstlich gefrühstückt in einem schönen alten Lokal gegenüber.

Um 12 Uhr Pilgermesse in der Kathedrale. Ich habe erstaunlich viel von der Predigt ver-standen, obwohl sie in spanisch gehalten wurde. Vorher sang eine Nonne mit engelsgleicher Stimme.
Man sieht viele bekannte Gesichter unter den Besuchern der Messe. Es wurden alle ange-kommenen Pilger verlesen, ich muss auch dabei gewesen sein.
Zum krönenden Abschluss wurde das große Weihrauchfass geschwungen. Das war schon beeindruckend. Erst hatte ich etwas Hemmungen mit Blitz davon Fotos zu machen, aber dann sah ich, dass einer der Priester hinter dem Altar auch Fotos machte und sich wie ein Kind über das Spektakel freute.
Zum Schluss gab es Applaus für diese Schauspiel. Warum nicht!

Es ist ein Tag des Abschieds und des Wiedersehens.
Nach der Pilgermesse und einem gemeinsamen caña machen sich Maria und Karin auf nach Noya, wo die beiden noch 10 Tage bei Marias Mutter verbringen werden. Ihre beiden Gatten haben sich ebenfalls für einen Urlaub dort angesagt.
Ich bin froh, die beiden getroffen zu haben. Die Woche mit ihnen zusammen war toll!

Später sehe ich alle möglichen lieben Menschen, die ich auf dem Camino kennengelernt habe, in den Gassen Santiagos wieder.
Man steht irgendwo und unterhält sich, dann erhascht man in einem Augenwinkel ein bekanntes Gesicht. Man dreht sich dorthin, freut sich, reißt die Arme hoch, ruft und läuft hin. Dann umarmt man sich!
Das geht einige Male so, denn ich sehe: Nicole und ihre Freundin, Kristin und ihre Freundin, Finn und seine Frau, Jürgen und Christa, Regina und Marina und noch andere.

Am Sonntag fahre ich mit dem Bus nach Finisterre.Der Bus nimmt jede Kurve der Straße mit Schwung mit. Und davon gibt es viele! Es geht entlang der Küste und dauert drei Stunden.
Ich bin froh, als ich in Finisterre aussteigen kann.

Ich stelle fest, dass dies nicht mehr mein Camino ist. Ich steige aus und denke: Aha, das ist also das berühmte Ende der Welt. Nun gut, das ist eine Bucht, da ist ein Kap, da ist Strand. Aber ich empfinde nichts Besonderes dabei, Strände und Buchten und Kaps habe ich schon mal gesehen.
Es liegt wohl daran, dass ich mir Finisterre nicht "erlaufen" habe, sondern mit dem Bus hierhin gefahren bin. Das würde ich beim nächsten Mal anders machen!
Ich spreche einen Pilger an und frage ihn nach einem Tipp für eine Unterkunft und er bringt mich zu einem kleinen Hotel.

Ich suche Muscheln am Strand, kühle meine Füße im Atlantik, laufe zum Leuchtturm am Kap, vorbei am Kilometerstein 0.
Ich setze ich mich am Kap auf die Felsen und genieße - für einen kleinen Augenblick - die Ruhe und den Blick nach Westen, bis eine Gruppe Buspilger lärmend in meine Gedanken einbricht.

Abends gehe gehe ich noch einmal zum Kap und warte auf den Sonnenuntergang. Dieses Mal setze ich mich etwas abseits hin und bin für mich alleine.
Da bin ich nun angekommen in meiner Entschleunigung!
Mehr und mehr Pilger kommen um den Sonnenuntergang zu beobachten, aber man ist leise und genießt.
Um 22.15 Uhr verschwindet die Sonne im Westen und hinter mir, im Osten geht derweil der Vollmond auf! Ein tolles Schauspiel!

Zurück in Santiago verbringe ich die restliche Zeit so: ich streife durch die Gassen der malerischen Altstadt, trinke hier und da einen Kaffee oder einen Wein, treffe immer mal wieder ein bekanntes Gesicht, suche nach Fotomotiven.
Zum Beispiel begebe ich mich noch einmal zum Platz vor der Kathedrale und beobachte ankomende Pilger: ihre Freude; ihre verklärten Gesichter; wie sich einige auf den Boden legen, um den Dom richtig zu sehen oder zu fotografieren; wie sie stolz ihre Compostela zeigen.

Alles ist hier auf den Ansturm von Pilgern eingestellt und es gibt zig Souvenirgeschäfte und Lokale, die von den Pilgern leben wollen.
Doch ich habe sogar auch das Glück, in einem Lokal zu landen, das nur von Einheimischen besucht wird. Mein Pilgerfreund Lothar hat es gefunden und wir essen uns einen Abend lang quasi durch alle auf der Karte stehenden raciones. Köstlich. So etwas mag ich mehr, als die touristisch ausgelegten Tapaslokale, wo die Gäste sich in Dreierreihen anstellen müssen, um etwas essen zu können.
Lothar kenne ich seit dem letzten Jahr und nun haben wir beide den Abschluss unseres jeweiligen Caminos gefeiert.

Das Wetter ist sehr galicisch, es scheint an einem Tag die Sonne und am nächsten regnet es.

Die bekannten Gesichter werden immer weniger und ich bin froh, dass Maria und Karin noch einmal zum Shoppen in die Stadt kommen und wir so einen netten Nachmittag miteinander verbringen.

Ein letztes Mal sitzen auch wir zusammen in Santiago: Marina und Regina und ich. Die beiden haben mich wirklich vom ersten bis zum letzten Tag irgendwie begleitet.

Ich habe viele Leute, die mir ans Herz gewachsen sind, in Santiago wieder getroffen, andere waren leider schon weg, weil ihre Rückflüge sie schon ein paar Tage vorher nach Hause gebracht haben.
Aber ich nabele mich langsam von meinem Abenteuer, dem Camino, ab und freue mich nun sehr auf zu Hause.

Morgen Mittag bringt Ryan-Air mich zurück nach Deutschland.

Buen Camino!

Home zum Anfang des Berichtes zurück weiter Ausrüstung / Herbergen / Literatur